von Mathias Döbbert
Wunderbar! Eine Woche Urlaub und ich bin auf dem Weg nach Hof, die Saale vom Oberlauf aus zu erobern. Mein Faltboot ist kompakt verpackt - mobile Freiheit pur auf Schienen- und Wasserwegen. Das gilt allerdings nur mit zwei Einschränkungen.
Zum Einen ist die Bahnnutzung auf Regionalzüge beschränkt. Fahrradtouristen wissen, wovon ich spreche. Mit meinem "Faltboot-Schrankkoffer" auf Sackkarre einen ICE zu besteigen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Aber auch das Entern der Regionalzüge birgt manche Tücke. In Leipzig versinken die Räder meines Transportgerätes in der Lücke zwischen Bahnsteig und Wagon. Ich reiße am Karrengriff und dieser löst sich aus der Verankerung. Verbogen. Mist. Ein erster Verlust schon zu Beginn des Abenteuers. Ein schlechtes Omen? Ich biege das Teil notdürftig zurecht. Die Funktionsfähigkeit blieb gewahrt, beruhige ich mich wieder, während die Erfurter Bahn Richtung Bayern düst.
Zum Anderen ist ein Wasserweg nur dann ein solcher, wenn er auch Wasser führt. Ansonsten sitz man buchstäblich auf dem Trockenen. Wochenlang hat es schon nicht mehr geregnet. Am heutigen Sonntag, den 30. Juni, sind rekordverdächtige 38 Grad im Schatten angekündigt. In der Mittagsglut erreiche ich den Zielbahnhof und rolle die gefühlt 50 kg Gepäck zum relativ nahen Saaleufer. Unterhalb des ersten Wehrs am Hofer Badehaus entfalte ich das Boot zum Einerkajak. Nach einer Stunde schweißtreibenden Aufbaus und Packens liegt "Majak" im Bett des Flusses, der eher einem Bach gleicht, startbereit. Eine letzte Stärkung aus dem reichlichen Reiseproviant und es beginnt meine Stunde Null.
Zunächst ist an Paddeln nicht zu denken. Ich bugsiere das Boot erst einmal durch Kaskaden von Steinwällen. Der "Stadtgraben", der sich hier "Sächsische Saale" nennt, ist nur zu Fuß zu bewältigen. Es beginnt ein Abschnitt knietiefen Wassers und ich kann endlich ins Kajak einsteigen. Ich gleite an einer Pegellatte vorüber und registriere einen Stand von 1,60 m. Daheim, in Aken an der Elbe, sind es um die 50 cm. Das scheint nicht viel zu sein, aber in der Fahrrinne kann man immer noch ertrinken. Hier habe ich trotz Pegel ständig Grundkontakt.
Ein erstes Wehr taucht auf. Keine Vorwarnung mit Schild oder sonstige Hinweise. Ich suche die Umtragestelle. Eine mit Brennnesseln bewehrte Uferböschung ist alles, was ich ausmachen kann. Mit reichlich Kraftaufwand gelingt es mir, das Boot hinaufzuziehen. Bei 35 Grad Hitze fließt der Schweiß in Strömen und die trockene Zungenspitze klebt am Gaumen fest. Gottlob habe ich einen Sechserpack Mineralwasser im Gepäck. Die erste Flasche ist verdampft, bevor ich noch "geschafft" sagen kann. Ich wuchte das voll beladene Kajak auf meinen neuen, eigens für die Fahrt georderten Bootswagen - ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk - und trottele einen gemähten Wiesenweg entlang. Ein Wagenrad verkeilt sich in einer Rasensenke und blockiert. Der Bootswagen klappt zusammen. Ist halt keine Asphaltstraße! Ich entlaste das Bootsinnere und -äußere um das Gewicht des Gepäcks, welches deutlich mehr wiegt als das Kajak selbst, und baue das Gefährt wieder auf. Da! Eine Stelle ohne Brennnesseln verheißt die Möglichkeit zum Wiedereinstieg. Im flachen Wasser stehend packe ich das Kajak und verschnüre die Utensilien. Ein Sicherungsring an der Achse des Bootswagens ist im Gras verschwunden und unauffindbar. Ich improvisiere. Zunächst muss ein Plastestäbchen genügen - vermutlich ein weggeworfenes Lollypop-Stäbchen. Später werde ich es durch einen Spanngurthaken dauerhaft ersetzt haben. Es geht weiter.
Kurze Zeit darauf versperrt ein umgestürzter Weidenbaum die Fahrt. Unterdurch - keine Chance, drumherum - genauso. Also: Aussteigen und Drüberheben. Mit Ach und Krach schiebe ich "Majak" durch's Geäst. Der Hecksteven bleibt hängen und eine der Spannschienen verbiegt sich arg. Das Malheur kann ich nur notdürftig richten. Dazu braucht man einen Amboss oder Schraubstock.
Unerwartet taucht die nächste Hürde auf; ein Wehr, das nicht einmal in meiner Wasserwanderkarte verzeichnet ist. Ich ziehe "Majak" an einer geeignet erscheinenden Stelle ans Ufer und begebe mich erst einmal zu Fuß auf Erkundung, wo und wie wieder eingesetzt werden kann. Ich erklimme die Böschung und stehe auf dem perfekt eingezäunten Gelände der Kläranlage von Hof. Die Tore sind an diesem Sonntag Nachmittag verrammelt und abgeschlossen. Alles super gesichert - außer von Flußseite. Hier rechnet niemand mit Kanufahrern. Ich stolpere durch die Brennnesselstreifen und finde eine Alternative. Es beginnt das Prozedere, welches ich dann nur zu oft noch anwenden werden muss. Aussteigen, Entladen, Anlanden, auf Bootswagen Aufschnallen, Umfahren, Gepäck Nachholen, Einsetzen, Beladen, Einsteigen. So geschehen auch an dieser Stelle; nur dass ich erst ein Wohngebiet, eine Pferdekoppel und eine Wildwiese überqueren musste, bevor ich eine Einsetzstelle finde. Zwei Kilometer weiter wartet bereits die nächste Überraschung auf mich - Stromschnellen hinter einer Autobahnbrücke. Gegen Stromschnellen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Sie beschleunigen sogar die Fortbewegung. Heute allerdings bremsen sie den Vorwärtsdrang. Ich rutschte über die vielen Über- und Unterwassersteine. Gelegentlich musste ich staken, um von einem Bremsstein herunter zu kommen.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich das Material meines Faltbootes als überaus elastisch erwies. Unter dem Druck der Steine bog sich die Außenhaut des Unterbodens nach innen und gab nach. Eine nach der anderen Steinwelle lief unter mir durch wie die großen Ozeanwellen durch einen Riesentanker. Dennoch sammelte das neue Boot mehr Kratzspuren, als mir lieb ist. Eintausend Meter weiter stehe ich vor dem Wehr Fattingsmühle bei Saalenstein. Die Mühen des weitläufigen Umtragens kosteten mich eine weitere Flasche meiner rasant schrumpfenden Trinkvorräte. Nach vier langen Kilometern Treideln, Gleiten, Rutschen und (gelegentlich) Paddeln bildet das letzte Wehr bei Joditz für heute den Abschluß des "Hürdenlaufs", weil ich auf dem dahinter folgendem Campingplatz "Auesee" mein Zelt aufschlagen wollte. Die Sonne geht hinter den Bäumen unter, als ich linkerhand den Zeltplatz hinter einer undurchdringlichen Dornen- und Brennnesselhecke erahne. Der niedrige Wasserstand ließ die Uferzone zur steilen Böschung ansteigen und selbst bei bestem Willen ist ein Halt hier nicht möglich - keine Furt, kein Strand, kein Steg - ein bayrisches Kleinod, aber nur über eine Asphaltstraße zu erreichen. Er dämmert bereits und ich sehe mich nach einem passenden Rastplatz um. Ein Wiesenstreifen neben einem Maisfeld ist willkommen. Die flache Saale gestattet einen problemlosen Ausstieg. Ich verstaute meine Habseligkeiten im flugs errichteten Zelt, kaue noch an etwas Trockenfutter rum und mache es mir auf meiner Luftmatratze gemütlich. In der Nacht lege ich mehrmals zusätzliche Kleidungsschichten an, denn die Temperaturen waren extrem gefallen. Morgen kann es nur besser werden.
Das Zwitschern der Vögel und die innere Unruhe locken mich aus der Höhle. Ich stehe mitten in der sächsischen Saale. Das klare Wasser ist warm und umspült kaum meine Knöchel. Die Treideltour geht weiter. Zeitweise senkt sich der Untergrund auf Knietiefe ab und ich schlüpfe freudig ins Kajak. Wieder ein paar hundert Meter paddeln. Breite Teppiche von Wasserhahnenfuß haben sich im Flußbett ausgebreitet und stehen in voller Blüte. Ich dirigiere "Majak" durch die schmalen Rillen zwischen den Teppichen, denn Auflaufen bedeutet Festsitzen wie auf einer Sandbank. Noch ist es nicht sehr warm, doch ich habe meine Trinkreserven gestern nahezu verbraucht. Da kommt mir der Halt am Wehr in Hirschberg sehr gelegen. Ich befestige das Boot an der Staumauer und begebe mich auf die Suche nach Mineralwasser.
Zum ersten Mal übrigens stoße ich vor Hirschberg auf ein Warnschild "Wehr" sowie eine Infotafel zum "Blauen Band" und weiß jetzt genau: Ich bin in den neuen Bundesländern angekommen. Der Ort selbst scheint ausgestorben. In der Hoffnung auf geschäftiges Handelsleben folge ich der "Marktstraße", doch weit und breit ist keine Menschenseele und kein einziger Laden zu sehen. Ich entdecke eine geöffnete Bäckerei und will mich schon mit Kaffee trösten, als ich erfahre, dass hier auch Wasser in Flaschen angeboten wird. Beherzt greife ich zu und gönne mir trotzdem noch eine Koffeinspritze. Mit drei Liter Wasser beladen kehre ich zum Wehr zurück. Von einer Einsetzstelle unterhalb des Hindernisses gibt es keine Spur. Ich lasse mein Kajak deshalb an einem Gummiseil die Wehrschräge hinabrutschen und tapse dabei selbst in eine Senke. Nun bin ich bis zum Hosenboden nass.
Die nächsten fünf Kilometer wird wie am Vortag gezogen, geschubst, getreidelt, gerutscht, gestakt und manchmal auch gepaddelt. In Spamberg am Wehr Nummer 9 sind Aussetz- und Einsetzstelle vorbildlich markiert und befestigt. Trotzdem sind die anschließenden drei Kilometer bis Pottiga mehr ein Fußmarsch, denn eine Wasserwanderung. Ein Reh am Ufer beäugt interessiert die ankommende Spezies. Anscheinend kann es einen Kanuten nicht zuordnen und äst ungerührt weiter. An der Blumenau-Mühle muss erneut umgetragen werden. Der Weg ist vorgezeichnet und endet im Mühlgraben, der sich viel später wieder mit dem Hauptlauf der Saale vereinen wird. Auf diesem Rinnsaal ist an Fahren nicht zu denken. Ausgiebiges Algenwachstum bedeutet Stillstand. Hinter dem Blankenberger Wehr gerate ich nochmals in eine Stromschnelle und mein Boot muss einige derbe Treffer und Stöße hinnehmen, bevor ich endlich mein heutiges Etappenziel - Blankenstein - erreiche. An der Selbitz-Mündung endet die Sächsische und beginnt die eigentliche Saale. Ich errichte mein Zelt strategisch günstig gegenüber vom Supermarkt und gönne mir nach all den Strapazen ein Thüringer Rostbrätl mit Waldmeisterbrause.
Der neue Abschnitt beginnt mit dem letzten Wehr. In Blankenstein ist der übliche Ablauf mit Aussteigen, Ausladen, Umtragen, Einladen und Einsteigen bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Noch zwei Kilometer Steinerutschen und ich erreiche endlich Harra. Hier staut sich bereits das Wasser der Bleilochtalsperre an und plötzlich ist genügend Wasser unterm Kiel. Vorbei an malerisch gelegenen Feriendörfern ragen an den Ufern steile, bewaldete Felsformationen des Thüringer Schiefergebirges auf. Das klare Wasser des "Thüringer Meeres" und strahlender Sonnenschein laden zum Bade. Motor- und Fahrgastschiffe kreuzen meinen Weg. Am Steg des Lobensteiner RC wird zur Mittagspause gerastet.
Biegung um Biegung windet sich nun die Saale ausufernd Saalburg entgegen. Weite Ausläufer zweigen links und rechts ab. Da kann man schon mal die Orientierung verlieren. Ich muss bei einer Motorbootbesatzung nachfragen. Neu ausgerichtet durchquere ich schließlich die Brücke von Saalburg. Der Wind frischt auf. Auf dem See der Talsperre toben sich Windsurfer aus. Die Brise ist heftig und ich vermeide breitseits auftreffende Wellen. Mein Kajak erweist sich als äußerst robust und kippstabil. Keine Welle schafft es bis ins Bootsinnere. Der Campingplatz Kloster kommt in Sicht und ich steuere auf das Hauptgebäude zu.
An der Rezeption werde ich freundlich aufgenommen. Man drückt mir eine frisch gedruckte Werbebroschüre zum Wasserwandern auf der Saale in die Hand, in der in schönsten Farben die verschiedenen Etappen ausgemalt sind. Bereits im ersten Kapitel steht jedoch geschrieben: ".. befahrbar nur bei einem Pegelstand in Hof über 1,80 Meter!" Dem brauche ich nichts hinzufügen. Eine Konsultation bei den Profis vom SEZ (Seesportzentrum) bestätigt alle Befürchtungen. Hinter den Staumauern von Hohenwarthe und Bleiloch herrscht wieder akuter Wassermangel. Der Unversehrtheit meines Kajaks zuliebe und um weitere 30 Wehre bis Naumburg zu vermeidenden, beschließe ich das Abenteuer an dieser Stelle abzubrechen. So ist am Loch Blei die Fahrt vorbei. Gemütlich lasse ich den Abend bei einer Tütensuppe ausklingen, denn das Restaurant hat zwei Tage lang geschlossen.
Ich falte Boot und Gepäck zusammen und lasse mich am nächsten Morgen zum Bahnhof fahren. Von dort aus ist wieder mobile Freiheit angesagt, zumindest, solange es noch Regionalbahnen gibt.